Die Südmandschurische Eisenbahngesellschaft, die sozusagen die Speerspitze des japanischen Kaiserreichs bei der Besetzung Chinas gewesen war, wurde 1945 von der Sowjetarmee aufgelöst.
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Tengos Vater war ein Jahr nach Kriegsende völlig mittellos aus der Mandschurei zurückgekehrt. Als dritter Sohn einer Bauernfamilie in Tohoku, im nordöstlichen Japan, hatte er sich mit gleichgesinnten Freunden den Pionieren angeschlossen, die die japanische Besiedlung der Mandschurei und der Mongolei vorantreiben sollten. Nicht dass sie die Regierungspropaganda über die Mandschurei als weites fruchtbares Arkadien geschluckt hãtten, das jedem Reichtum bringen würde, der sich dort ansässig machte. Dass es ein solches Arkadien nicht gab, war ihnen von Anfang an klar. Aber sie waren bitterarm und fristeten, auch wenn sie auf dem Land lebten, ein Dasein am Rande des Hungertodes. Durch die Weltwirtschaftskrise quoll Japan über von Arbeitslosen, und so hätten sie, auch wenn sie in die Städte gezogen wären, niemals Arbeit gefunden. Die Überfahrt in die Mandschurei war daher für sie der einzige Weg, um zu überleben. Nachdem sie eine notdürftige Grundausbildung als bewaffnete Siedlungspioniere und ein paar spärliche Informationen über die Landwirtschaft in der Mandschurei erhalten hatten, wurden sie mit dreimaligem „Banzai“ losgeschickt. Sie ließen die Heimat hinter sich und wurden von Dalian – im Westen besser als Port Arthur bekannt – mit der Eisenbahn in die Nähe der mandschurisch- mongolischen Grenze verfrachtet. Dort erhielten Tengos Vater und seine Kameraden ein Stück Ackerland, Gerãtschaften und ein kleines Gewehr und sollten nun Landwirtschaft betreiben. Doch alles, was sie auf dem kargen, steinigen Boden anpflanzten, erfror im Winter, und um nicht zu verhungern aßen sie sogar streunende Hunde. Nach einigen sehr schweren Anfangsjahren bekamen sie mehr Hilfe von der Regierung und schafften es, eher schlecht als recht dort zu überleben.
Im August 1945 – ihr Leben war endlich etwas leichter geworden – fiel die Sowjetunion entgegen ihrem 1941 mit Japan geschlossenen Neutralitätsabkommen in Mandschukuo ein. Große Teile der von der europäischen Front abgezogenen Sowjetarmee wurden mit der Sibirischen Eisenbahn in den Fernen Osten verlegt und überschritten die chinesische Grenze. Ein Beamter, mit dem Tengos Vater sich angefreundet hatte, erzählte ihm unter der Hand von der bedrohlichen Lage und dem bevorstehenden Einmarsch der Sowjets. Die geschwächte japanische Kwantung-Armee habe dieser kaum etwas entgegenzusetzen, teilte ihm der Beamte heimlich mit, und er solle sich darauf einstellen, Hals über Kopf zu flüchten. Je schneller, desto besser. Sobald Tengos Vater die Nachricht vom Grenzübertritt der Sowjetarmee erhielt, ritt er auf einem Pferd, das er zu diesem Zweck bereitgehalten hatte, zum Bahnhof und erreichte gerade noch den vorletzten Zug in Richtung Russland. In seinem Freundeskreis war er der Einzige, der in jenem Jahr unbeschadet nach Japan zurückkehrte.
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Statt ihm abends vor dem Schlafengehen etwas vorzusingen oder vorzulesen, erzählte sein Vater ihm wieder und wieder von seinen Erlebnissen. … dass man ihn geschlagen hatte wie einen Hund ehe er als Pionier in die Mandschurei gezogen war. Er erzählte von der Erde dort, die so kalt war, dass der Strahl beim Pinkeln zu Eis erstarrte. Das öde Land hatte er urbar gemacht und Pferdediebe und Wölfe gejagt.
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„Ich war damals in der Mandschurei, da hatten wir kein Radio. Auch keinen Rundfunksender. Zeitungen gab es ganz selten, höchstens mal welche, die zwei Wochen alt waren. Nicht einmal zu essen hatten wir genug, Frauen auch nicht. Manchmal kamen Wölfe. Es war wie am Ende der Welt.“
Professor Ebisuno hob für einen Moment die Hände und ließ sie dann wieder auf seine Knie fallen. „Also verließ ich die Universität, und zwei Jahre später kehrte auch Eris Vater ihr den Rücken. Er glaubte damals an Maos Ideen und beschäftigte sich intensiv mit der Großen Kulturrevolution. Damals gab es ja kaum Informationen über ihre grausamen und unmenschlichen Seiten, und die kleine rote Fibel mit Maos Aussprüchen war bei einem Teil der Intellektuellen richtig in Mode. Eris Vater gründete mit Studenten, die er um sich geschart hatte, eine radikale Zelle, eine Art Pseudo-Rote-Garde, und beteiligte sich an der Bestreikung der Universität.
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Nachdem er die Universität verlassen hatte, trat er mit zehn Studenten, die den harten Kern seiner Roten Garde gebildet hatten, der ‚Takashima-Schule‘ bei.
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„Bei Takashima war es lustig“, sagte Fukaeri.
Der Sensei lächelte. „Ich glaube, die kleineren Kinder hatten dort tatsächlich eine schöne Zeit. Aber wenn sie in die Pubertät kamen und ihr Selbstbewusstsein erwachte, wurde Takashima fir viele Kinder beinahe zu einer Hölle auf Erden. Jeder natürliche Impuls, selbstständig zu denken, wurde gewaltsam unterdrückt. Statt der Füße wurde ihnen das Gehirn abgebunden, könnte man sagen.“
„Statt der Füße“, fragte Fukaeri.
„Im alten China wurden den kleinen Mädchen die Füße gewaltsam eingebunden, damit sie nicht zu groß wurden“, erklärte Tengo.
Ein rascher Tritt in die Hoden ist für die Frau die einzige Chance. Das sagt auch Mao Zedong: Man muss die Schwachstelle des Gegners entdecken und ihn, indem man ihm zuvorkommt, genau dort angreifen. Nur so hat die Guerilla eine Chance gegen reguläre Truppen.“ „… Egal, was Mao Zedong sagt oder von mir aus Dschingis Khan, ein solcher Anblick verunsichert, verårgert oder verstört die meisten Männer.“
Er war der Einzige, der die Brücke passierte. Sie führte über einen großen, schönen Fluss mit mehreren Sandbänken, auf denen Weiden wuchsen. Im gemächlich dahinströmenden Wasser sah er die eleganten Körper der Lachsforellen. Frische grüne Blätter trieben anmutig auf der Wasseroberfläche. Es war eine Szenerie wie auf einem chinesischen Teller.
Tamaru brachte ein Metalltablett mit zwei Tassen, einer schönen Teekanne aus Seladon und Stoffservietten.
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Aomame nahm den Umschlag vom Tisch und legte die sieben Polaroid-Fotos, die er enthielt, neben der kostbaren Seladon-Kanne wie Unheil verheißende Tarotkarten aus.
„Kampfsport“, sagte die Frau bewundernd. „So ungefahr wie Bruce Lee?“
Beim ersten Schusswechsel waren drei Polizisten von in China hergestellten automatischen Kalaschnikows getötet und zwei mehr oder weniger schwer verletzt worden. Danach flüchteten die bewaffineten Extremisten in die Berge, wo es zu einer großangelegten Verfolgungsjagd kam.
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Bisher vermutet man nur, dass die chinesischen Kalaschnikows über Nordkorea ins Land gekommen sind, aber restlos aufgeklärt wurde das nie.
„Ich war bei einer anerkannten Kapazität in einer Spezialklinik. Und habe noch mehrere andere Ärzte konsultiert. Aber am Ende ist nur herausgekommen, dass ich an einer unbekannten Krankheit leide, gegen die man nach dem gegenwärtigen Stand der Medizin nichts tun kann. Ich habe alles versucht, was man sich nur vorstellen kann – chinesische Medizin, Osteopathen, Chiropraktiker, Akupunktur und Moxibustion, Massagen, heiße Bäder – ohne nennenswertes Ergebnis.“
Haruki Murakami: 1Q84. Buch 1 & 2, 2010 (Original 2009), Übersetzung von Ursula Gräfe, btb